WERK BAUEN+WOHNEN 2016
ERSTLING: DIE ZIERPFLANZE AM WALDRAND
Ein Neubau in Heizenholz treibt Blüten

Imogen Macpherson

Dort, wo der 46er-Bus eine Schlaufe fährt, wo die Häuschen mit den Gartenzwergen um die Wette stramm stehen und die Wochenendbiker*innen hinaufradeln- dort am Waldrand mischt ein neu gebauter Querulant die bestehende Vorstadtidylle auf. Nur wenige rebellieren hier gegen die vorherrschende, rechtwinklige Ordnung. Das Doppeleinfamilienhaus der Architekten Gunz & Künzle, fertiggestellt 2014, steht mit seiner erfrischenden Geometrie am Rande des Heizenholz in Höngg. Der Ersatzneubau mit seinen unkonventionellen Ecken und Kanten am Hang wurde vom Zürcher Architekturbüro in Zusammenarbeit mit dem Architekten Piotr Brzoza aus Basel für eine private Bauherrschaft realisiert.

Das Erbe und die Wurzel
In dem Haus wohnen zwei Brüder mit ihren Familien, die jeweils eine Hälfte des Hauses für sich beanspruchen. Die Kinder des älteren Bruders sind schon ausgeflogen, die des Jüngeren kosten die grossräumige Nestwärme des neuen Zuhauses aus.
Die Brüder haben die Liegenschaft geerbt und beschlossen, etwas Grösseres bauen zu lassen. Durch Bekanntschaften kamen sie auf die Architekten, mit denen sie in enger Zusammenarbeit ihre Wohnvision errichteten. 

Neben den klassischen Reiheneinfamilienhäusern rundherum hebt sich das neue Gebäude formell ab, ist aber im Grunde genommen mit Garten, Garage und Terrassen nicht von Grund auf anders.  Anstatt nur nebeneinander zu stehen, verschmelzen die zwei Haushälften zu einem Volumen, die Teilung ist nur an den separaten Hauseingängen auf der Nordseite erkennbar. Diese Fassade mit den zwei runden Badezimmerfenstern in der Mitte über dem Vordach kann als eine postmoderne Geste gelesen werden, sie schaut den Wald und den Weg an, ein beiläufiges „Sei gegrüsst, Nachbar*in!“ wispert durch die Bäume. Bei den Wurzeln des Hauses zwischen den zum Trocknen aufgehängten Leintüchern existiert eine leicht versteckte Verbindungstür zwischen den beiden Parteien. Die Brüder fühlen sich wohl nebeneinander, schätzen zugleich ihre Privatsphäre. Sie vertrauen einander aber genug, sodass ins andere Haus gewechselt werden kann, ohne dass die räumliche Unabhängigkeit eines klassischen Doppeleinfamilienhauses ausser Kraft gesetzt wird.

Vertikal sei der Stamm
Jede Hälfte hat ganz klassisch ihre eigene Erschliessung- ein Treppenkern, welcher sich vertikal über die ganze Höhe des Gebäudes erstreckt.
Dessen formale Ausprägung ist jedoch nicht wie erwartet, denn der Grundriss ist unregelmässig fünfeckig. Ein Treppenauge durchsticht alle vier Geschosse, um die Helle des Oblichtes bis nach unten gleiten zu lassen. Beim Betreten fühlen sich die holzigen Stufen ganz glatt an, sie warten noch darauf, richtig eingelaufen zu werden. 
Von unten betrachtet wirkt die Treppe aufgrund der weissen Einfassung wie aus glänzenden Kapaplatten geschnitten und als ein einzelnes Element in die Struktur des Gebäudes gestellt- man denkt an die musealen Bilder des „House iii“ von Peter Eisenman. Die Staubkörnchen tanzen durchs Sonnenlicht, die Schritte hinterlassen einen leisen, sphärischen Hall.

Der Bienenstock und die Äste
Die modellhafte Atmosphäre der Treppe zieht sich in den Zimmern mit den hellen Holzböden weiter- Die Möblierung der guten Stube funktioniert noch aufgrund ihrer grossen Dimensionen, den langen Wänden und den breiten Fenstern, jedoch weiter oben wusste man mit den wabenartigen Räumen weniger anzufangen. Ihre asymmetrische, meist fünfeckige Form macht es nicht leicht, ein herkömmliches Kinderzimmer einzurichten. Sie wirken nackt, die Wände sind kahl und die Einrichtung hat sich den Raum noch nicht angeeignet. Es scheint, als hätten die Architekten die Verantwortung für den physischen Raum an die Bewohner abgegeben. Deren Unerfahrenheit mit solch unkonventionell geformten Zimmern wird offensichtlich- oder ist der Zeitpunkt des Einzugs noch so frisch?
Die Entscheidung, sich solch ein Zuhause zu errichten, legt nahe, dass die Ausformulierung der Zimmer - welche das persönliche Herzstück für den/die jeweilige*n Bewohner*in bilden- auch die Freude des Einrichtens und Gestaltens mit sich bringen. Die Waben wollen belebt werden, wie die Bienenstöcke am Waldrand. Dieses Bauwerk hat den tadellosen Body, doch ausgestattet ist es wie mit der Ausbeute einer Schnäppchenjagd aus einem Discounter an der Autobahnausfahrt. Ein Versuch, etwas von der sterilen Kahlheit abzulenken, blieben die Zimmerwände, gestrichen in diversen Gelbtönen.

Die Sehnsucht über den Wipfeln
Die rustikalen Steinplatten ums Haus, der raue Verputz und die gelbe Farbe der Fensterstoren erwecken am Äusseren einen leisen Hauch des Mediterranen in der sonst so peniblen Vorgartenlandschaft.

In den Fensterlaibungen ist der Verputz feinkörniger, ein Detail, das schnell ins Auge springt. Obwohl kostengünstige Konstruktionen wie eine Kompaktfassade verbaut wurden, ist der Detaillierungsgrad des Gebäudes doch überraschend delikat. Die filigranen Fensterbrüstungen etwa erinnern an jene im Inneren des Märkli Building auf dem Novartis Campus - oder an fein säuberlich gelaserte Student*innenmodelle. Doch ein Blick auf die Dachkante mit Abschlussblech reicht, um sofort in den realen Massstab zurückzufallen.

 Die vielen Terrassen, welche durch das asymmetrisch abgetreppte Volumen gebildet werden, sind gut gemeint, doch noch unbefleckt. Fast jedes Zimmer hat seine eigenen  Aussenbereich, sogar das Bad im obersten Stock. Was für ein Luxus! Doch das Auge wünscht sich Sonnenschirme, Kinderschuhe und wuchernde Blumen, vielleicht ein Kräuterbeet.
Einzig die Dachterrasse wird ihren Erwartungen gerecht. Ein phänomenales Panorama ziert das dramatisch gestaltete Dach oberhalb des Attikageschosses. Dort sieht man knapp den 46er seine Runde drehen, die Gartenzwerge der Nachbarn linsen neidisch nach oben und etwas weiter am Horizont flimmert der Sendeturm des Uetlibergs.
Das Betreten des Dachs hat etwas leicht Verbotenes, da die Bodenplatten schon von kleinem Unkraut überwuchert sind, der Wind das farbige Kies etwas zerzaust hat und es nicht wirklich einen offiziellen Ort zum sich hinsetzen gibt. Dies lässt eine verkappte Romantik aufkommen, wie wenn man sich erinnert, als Kind auf viel zu hohe Bäume geklettert zu sein und nicht wieder hinunterkommen wollte. Die Sehnsucht nach der Ferne, dem Mediterranen Meer kommt auf, im Garten wollen blaue Blumen gepflanzt werden.



Die beiden Brüder wussten das Grundstück räumlich gesehen bis aufs äusserste zu nutzen und standen plötzlich mit so viel Wohnraum da, dass diese Wucht den letzen Schritt zur Eroberung des Raums bis jetzt verhinderte. Die Wände werden bestaunt aber nicht behängt.
Die Rebellion durch unkonventionelle Geometrien in der Agglomeration ist klanglos verpufft, das vermeintlich zeitgenössische Wagnis einer polygonalen Vorstadtidylle ist überholt.
Das räumliche Experiment mit nicht rechtwinkligen Geometrien ist ein delikates Unterfangen. Je luftiger der Raum, desto einfacher lebt es sich darin. Aber sobald er sich zu Kammern verkleinert, findet ein normales Bett kein bequemes Plätzchen mehr.
Vom Freiheitsgefühl wird genascht, doch ganz schnell wieder in der Ecke versteckt und was macht man mit einem spitzen Zimmerwinkel ? Man stellt eine Topfpflanze hin.


Dieser Text ist die subjektive Sicht der Autorin. Sie lebt und arbeitet als Architektin am Bielersee.
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